Afrika und die Entstehung der modernen Welt

Eine Globalgeschichte

Wenn irgendwo historische Dokumente auftauchen, die die das bisherige Geschichtsverständnis in Frage stellen, wenn Archäologen Funde machen, die bisherige Kulturvorstellungen als falsch entlarven oder wenn die Analyse von DNA-Proben darauf hindeuten, dass die Evolution in Teilbereichen anders verlaufen ist als immer angenommen, dann ist schnell die Rede davon, dass „die Geschichte neu geschrieben werden muss“. Bei aller Begeisterung der jeweiligen Fachwissenschaftler handelt es sich dabei jedoch meist um Erkenntnisse, die das historische Gesamtbild nur marginal verändern. Das, was uns der Journalist Howard W. French mit seinem Buch Afrika und die Entstehung der modernen Welt vorsetzt, stellt diesbezüglich einiges auf den Kopf.

Auf der Suche nach dem Gold Afrikas

Das beginnt mit dem Bild, das wir uns noch heute von den Gesellschaften des afrikanischen Kontinents machen. Kaum jemand weiß, dass die mächtigen afrikanischen Königreiche des Mittelalters und der Neuzeit den goldgierigen Europäern sowohl militärisch als auch intellektuell, politisch und kulturell die Stirn bieten konnten. Diplomatische Beziehungen und Bündnisse afrikanischer Herrscher mit portugiesischen und spanischen Königen, Handelsbeziehungen zwischen den Portugiesen und den afrikanischen Königreichen, bei denen die Europäer in ihren Küstenstützpunkten bestenfalls geduldet waren und die Schwarzen die Regeln bestimmten und nicht zuletzt das geschickte Nutzen der europäischen Konkurrenz zur Durchsetzung Schwarzer Machtpolitik auf dem Kontinent prägen die europäisch-afrikanische Geschichte noch bis in späte 17. Jahrhundert.

Die Entdeckung des Schwarzen Goldes

Nachvollziehbar und mit historischen Dokumenten belegt, beschreibt French, welche Bedeutung der afrikanische Kontinent und seine Menschen bis in die Moderne für die europäischen Mächte und ihre gesellschaftliche, wirtschaftliche und industrielle Entwicklung bis hin zur Globalisierung hatte. Es waren die Millionen von Schwarzen Sklaven, die bis spät ins 19. Jahrhundert hinein zunächst vor der afrikanischen Westküste, dann in Brasilien, in der Karibik und schließlich in Nordamerika als Produktionsmittel auf den Zuckerrohr- und Baumwollplantagen zur Kapitalansammlung verbraucht wurden und damit nicht nur die Industrialisierung in Europa, sondern auch die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents begründeten. French beschreibt auch, wie der Freiheitsgedanke der europäischen Aufklärung in Verbindung mit der Sklaverei basierten Kapitalbildung in der Karibik und der neuen Welt zu dem Rassismus führte, der für die Zeit des Kolonialismus und dem Aufstieg der Vereinigten Staaten zur führenden Industrienation so prägend war und auch unsere Vorstellungen von den „herausragenden“ Fähigkeiten und Leistungen der europäischen Siedler bis heute bestimmen.

Von der europäischen Aufklärung und der Schwarzen Selbstbefreiung

Schließlich führt der Autor seine LeserInnen zu den kulturellen und historischen Brennpunkten der amerikanischen Geschichte, die allein aufgrund der Tatsache, dass die Weißen auf dem Kontinent gegenüber den zwangsmigrierten Schwarzen weit in der Unterzahl waren, vor allem eine Schwarze, von den europäischen „Herren“ verschwiegene und beispielsweise in der Musik angeeignete Geschichte ist. Bei der Lektüre dieses Buches wird dem der LeserIn deutlich, dass unser über unsere Geschichtsschreibung vermittelte historische Vergangenheit gerade hinsichtlich des Prozesses der Aufklärung vor allem aus Mythen besteht. Es waren nicht die Europäer, allen voran die Engländer, die das Ende der Sklaverei herbeigeführt hatten. Es waren nicht die Nordstaaten, die im Bürgerkrieg der Sklaverei ein Ende zu setzen gedachten. Und auch bei der französischen Revolution bezog sich der so hochgehaltene Freiheitsgedanke nicht auf die Schwarzen Sklaven der Karibik. Im Gegenteil es waren die Schwarzen selbst, die sich in blutigen Aufständen ihre Freiheit erobert und damit ebenfalls die Geschichte beeinflusst hatten. Auch dies ein Kapitel, das in unserer Geschichtsschreibung erfolgreich unterschlagen wird.

Weltgeschichte: Vom europäischen Mythos zur Schwarzen Realität

Im Gegensatz zu den in der Einführung aufgeführten Erkenntnissen, die in angemessener wissenschaftlicher Selbstüberschätzung dazu auffordern, die „Geschichte neu zu schreiben“, ist dies im Falle der gemeinsamen europäisch-afrikanischen Vergangenheit gar nicht notwendig. Denn die Fakten, die entsprechenden Dokumente und Spuren sind seit Beginn der Beziehungen bekannt. Sie wurden (und werden noch heute) aus nachvollziehbaren Interessen schlichtweg verschwiegen oder umgedeutet. Howard W. French ist es gelungen, die reale Geschichte in all ihren Facetten überzeugend und belegt zu erzählen. Naturgemäß stellt dabei selbst das rund 500-Seitige Buch „nur“ einen, wenn auch beeindruckenden und betroffen machenden Überblick über mehr als fünf Jahrhunderte Weltgeschichte, bei der Afrika und die Afrikaner und ihre zentrale Rolle bei der Entstehung der modernen Welt im Mittelpunkt stehen. Dabei geht es eben nicht darum, die Geschichte neu zu schreiben, sondern ihre Realität wieder wahrzunehmen. Für dieses Buch war es allerhöchste Zeit, auch wenn es vermutlich nicht die lesen werden, die es sollten.

Howard W. French: Afrika und die Entstehung der modernen Welt. Eine Globalgeschichte. Klett-Cotta 2023. Hardcover mit Schutzumschlag, 508 Seiten

2 Kommentare

Eingeordnet unter 19. Jahrhundert, 4 Frühe Neuzeit, 5 Neuzeit, Aufklärung, industrielle Revolution, Kolonialisierung, Rezension

2 Antworten zu “Afrika und die Entstehung der modernen Welt

  1. adamrhau

    Kann man das wirklich sagen, daß erst die Sklaverei in Amerika die Besiedlung Nordamerikas und die Industrialisierung ermöglichte??
    Wenn, dann handelte es sich um ein vergiftetes Geschenk!

    Die Kausalität war eher die umgekehrte: als die Maschinen Sklavenarbeit zunehmend überflüssig machten, entdeckten England und später die US-Nordstaaten, wie moralisch verwerflich Sklaverei doch sei. Der angelsächsische cant ist nicht erst ein Geschöpf des 20./21. Jahrhunderts. Mir ist auch nichts von Aufständen der Sklaven in den Südstaaten oder in Brasilien bekannt…

    Ein typisch zeitgeistig-wokes Buch!

    • Ohne den Inhalt und die Quellen des Buches, die Ihnen unbekannten aber belegten historischen Ereignisse sowie die Argumentationen des Autors zu kennen, ist Ihr Urteil m.E. schon ein wenig voreilig. Und ganz ehrlich, die historischen Erkenntnisse und Forschungen haben sich in den letzten Jahrzehnten generell durchaus weiterentwickelt, ohne damit „typisch zeitgeistig-woke“ (welche Bewertung damit bei Ihnen auch immer verbunden sein mag) zu sein. Natürlich lässt sich über die eine oder andere Interpretation des Autors durchaus streiten, aber das setzt natürlich die Lektüre des Buches und die ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik voraus.

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