Meuterei im Paradies

Wenn man der medialen Verarbeitung und den zeitgenössischen Reaktionen Glauben schenken darf, so war die erste Brotfruchtexpedition unter Commander William Bligh die wohl spektakulärste Seereise der Globalisierungsgeschichte. Und tatsächlich sucht dieses Ereignis, das unter dem Titel „Meuterei auf der Bounty“ heute wohl weltbekannt sein dürfte, in der an Meutereien wahrlich nicht armen Geschichte der „Entdeckungsreisen“ im Allgemeinen und der Royal Navy im Besonderen seinesgleichen. Der Geschichtswissenschaftler und Spezialist der britischen Seefahrtsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Simon Füchtenschnieder, hat sich dieses Ereignisses im seefahrthistorischen und wirtschaftlichen Kontext erneut angenommen.

Der Stoff aus dem Mythen entstehen

In der öffentlichen Wahrnehmung und unterhaltungsmedialen Verarbeitung stellt sich die Meuterei auf der Bounty als Folge persönlicher Rivalitäten, moralischer Unzulänglichkeiten und natürlich der Verführungskraft pazifischer Inselparadiese dar. Selbstverständlich spielten diese Faktoren auch eine Rolle, doch die Realität ist wie so oft deutlich weniger romantisch. Und so beginnt der Autor auf der Basis zeitgenössischer Dokumente und Gerichtsakten sein Buch mit der Darstellung der Ereignisse, von der Meuterei über die aufsehenerregende Bootsfahrt, Blighs Rückkehr nach Großbritannien, die Irrfahrten und Konflikte der Meuterer, bis hin zur Strafexpedition der HMS Pandora, die juristische Aufarbeitung und das Schicksal und Vermächtnis der überlebenden Meuterer auf den Pitcairn-Inseln. Schon hier lässt sich erahnen, dass die Hintergründe und Rahmenbedingungen, die dieses Ereignis überhaupt erst spektakulär werden ließen, wohl spannender sind als die persönlichen Animositäten und Rivalitäten der Akteure.

Brotfrucht als vermeintliche Wunderwaffe zur Kostensenkung der karibischen Plantagensklaverei

Die Brotfruchtexpedition war einerseits Ergebnis der naturwissenschaftlichen Bestandsaufnahme der Ressourcen dieser Welt durch die europäischen Mächte, allen voran Großbritanniens, andererseits der globalen ökonomischen Verflechtungen des britischen Imperiums. Rahmen der Südseereisen James Cooks hatten die Europäer auch die Brotfrucht auf Tahiti kennengelernt. Die entpuppte sich als nahezu unerschöpfliche Grundnahrungsquelle für die auf ihren langen Seereisen notorisch unter Proviantmangel leidenden „Entdecker“. Nicht zuletzt dem Einfluss des Vorsitzenden der Royal Society und ehemaligen wissenschaftlichen Reisegefährten Cooks auf dessen erster Südseereise, Sir Joseph Banks, war es zu verdanken, dass Lieutenant William Bligh 1787 den Auftrag erhielt, Stecklinge des Brotfruchtbaums von Tahiti zu den Westindischen Inseln zu bringen. Dort sollten die Früchte des Baumes als preiswertes Nahrungsmittel für die Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen dienen. In den Kapiteln 1 bis 3 stellt Simon Füchtenschnieder diese Hintergründe und die Verwicklungen zwischen Wissenschaft, Ökonomie und Politik dar, bevor er sich in Kapitel 4 der Wahrnehmung Tahitis im Europa der Aufklärung zuwendet.

Sehnsuchtsort Südsee

Der Abstecher in die Diskussion um „Edle Wilde“ oder „einfältige Barbaren“, die die europäische Sicht auf die Menschen der „entdeckten“ (und okkupierten) Länder prägte, scheint nur auf den ersten Blick irgendwie fehl am Platze. Doch die „exotischen“ Gemeinschaften eröffneten den in industrielle Hierarchien gepressten Menschen zumindest gedanklich neue gesellschaftliche Perspektiven. Es ist kein Zufall, dass sich nicht nur in Großbritannien Utopien von egalitären Gesellschaften breit machten, die jedoch in ferne Länder (z.B. Madagaskar) oder Zeiten verlagert wurden. Das in der europäischen Sicht als Paradies begriffene Tahiti bot den Männern der Bounty nun eine praktische Alternative zum entbehrungsreichen und teils menschenunwürdigen Leben an Bord. Bereits James Cook hatte 1769 bei seinem Aufenthalt auf Tahiti mit Desertationen zu kämpfen. Nachvollziehbar, nachdem man das Kapitel „Unter guten Geistern oder den Teufeln der Hölle: Die Welt der Schiffe“ gelesen hat.

Staatsraison ohne staatliche Autorität?

Doch an Bord der HMB Endeavour hatte es eben keine Meuterei wie auf der Bounty gegeben und das aus guten Gründen. Denn das Scheitern der ersten Brotfruchtexpedition war eben nicht der Charakterschwäche oder der besonderen Strenge des Kapitäns geschuldet, sondern lässt sich nach Füchtenschnieder auf Geiz und Desinteresse der Admiralität bei der Planung der Reise zurückführen. Die hatte es nämlich versäumt, die strukturellen und personellen Grundvoraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Disziplin an Bord eines Schiffes zu schaffen, das über Jahre allein auf sich gestellt, fernab jeglicher staatlicher Repressionsinstrumentarien unterwegs war. Der vom Autor im Folgenden vorgenommene Vergleich von Planung und Durchführung der ersten (gescheiterten) und zweiten (erfolgreichen) Reise erklärt, warum 1791–1793 gelang, was 1789 schief gegangen war.

Alles in allem ist dem Klappentext zuzustimmen, wenn er titelt: „Die Meuterei auf der Bounty – eine packende Geschichte der Globalisierung.“ Und weiter: „Erstmals bettet er diesen sagenhaften Stoff in den seefahrthistorischen und wirtschaftlichen Kontext seiner Zeit ein …“ Worauf sich dieses „erstmals“ auch genau beziehen mag, eine lohnende Lektüre ist dieses Buch allein schon wegen der umfangreichen Recherchen in den zeitgenössischen Dokumenten und den entsprechenden Zitaten der Beteiligten allemal.

Simon Füchtenschnieder: Meuterei im Paradies. Die Fahrt der Bounty und die globale Wirtschaft im 18. Jahrhundert. Klett-Cotta 2024. Hardcover mit Schutzumschlag, 293 Seiten.

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