Alexander von Humboldt, Das zeichnerische Werk

Von den rund 600 Seiten mit graphischen Elementen aus dem Nachlass Alexander von Humboldts stellen Dominik Erdmann und Oliver Lubrich im von ihnen herausgegebenen Buch „Alexander von Humboldt. Das zeichnerische Werk“ 260 Blätter vor, die einen Eindruck vom Denken und Schaffen des berühmten Naturforschers vermitteln. Dabei unterscheiden sich die hier präsentierten Zeichnungen deutlich von jenen Abbildungen, die im ebenfalls von Oliver Lubrich herausgegebenen „Alexander von Humboldt. Das graphische Gesamtwerk“ vorgestellt werden. Während es sich beim Graphischen Gesamtwerk aber um jene Bilder handelt, die von Humboldt zu seinen Lebzeiten in seinen Büchern oder Aufsätzen veröffentlicht wurden, präsentieren die Herausgeber beim hier vorliegenden zeichnerischen Werk gewissermaßen handschriftliche Vorstufen oder unveröffentlichte Manuskripte aus Humboldts Nachlass.

Der Nachlass Alexander von Humboldts

Keine Frage, das zeichnerische Werk ist im Vergleich zu den detailliert ausgearbeiteten, sauber gestochenen und aufwändig kolorierten Buchillustrationen nicht zwingend eine Augenweide. Kein Wunder, handelt es sich hier doch um Notizen, Skizzen, Fingerübungen und Merkzettel, die vor allem Humboldts Arbeitsweise und Denksystematiken widerspiegeln. Die Auseinandersetzung mit diesem Nachlass führt den Leser/Betrachter in eine Zeit, in der – neben Beobachtung, intensiver Denkarbeit und Informationsverarbeitung durch das menschliche Gehirn – noch Bleistift, Kohle und jede Menge Papier Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis war. Und so stammen die im Buch vorgestellten Zeichnungen und Manuskriptseiten aus Humboldts Arbeitsarchiv, den Kollektaneen (Staatsbibliothek zu Berlin und Jagiellonische Bibliothek in Krakau), bestehend aus unzähligen thematisch gegliederten, beschrifteten Mappen, die wiederum als größere Materialsammlungen in Kartons und Kästen zusammengefasst wurden.

Eine erste Bestandsaufnahme

Aus diesem Konvolut an Manuskripten, Notizzetteln und Zeichnungen das zeichnerische Werk Humboldts herauszuarbeiten ist zweifellos eine Herausforderung. Denn viele der Zeichnungen, die sowohl auf seinen Reisen im Feld als auch im Studierzimmer entstanden, sind integraler Bestandteil von Manuskripten oder mit unzähligen Anmerkungen versehen, so dass sie – wenn sie nicht als Vorlage noch auszuarbeitender Buch- oder Aufsatzillustrationen gedacht waren – keinen eigenständigen Charakter ausweisen, sondern eher als Veranschaulichung, Visualisierung der jeweiligen Notizen und Gedankengänge dienen. Das hier nun als Buch vorliegende zeichnerische Werk besteht also aus einer ersten Zusammenstellung einzelner Blätter aus diversen Zusammenhängen. Es ist eine erste Bestandsaufnahme aus dem Archiv. Nach Vorstellung der Herausgeber stellt sie eine Grundlage für die weitere Forschung und die Beantwortung einer Reihe von kunst- und wissenschaftsgeschichtlichen Fragen dar.

visueller Erkenntnisgewinn

Aber der Leser/Betrachter muss kein Kultur- oder Wissenschaftshistoriker mit Forschungsanspruch sein, um sich der Faszination Humboldtscher Arbeitsweise hinzugeben. Denn die Einführung in das zeichnerische Werk Humboldts hilft dem Leser/Betrachter dabei, die verschiedenen Aspekte und komplexen Zusammenhänge seiner Entstehung und Entwicklung zu verstehen und gibt ein Instrument an die Hand, auch die kultur- und wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung der einzelnen reproduzierten Blätter zu erfassen. Als Beispiel sei hier nur die „schematische Erdkarte mit isothermer Linie und Vergleichsdarstellung von Länderprofilen“ genannt. Dieses Blatt verkörpert beispielhaft den Charakter von Humboldts Zeichnungen, die nicht nur Illustrationen, sondern auch Mittel zum Erkenntnisgewinn darstellen. Kaum jemand weiß heute, dass die Isothermen, die heute aus der Klimatologie nicht mehr wegzudenken sind, auf dem auf diesem Blatt skizzierten Konzept Humboldts basieren, das er 1817 in seinem Aufsatz „Des lignes isothermes et de la distribution de la chaleur sur le globe“ publiziert hatte.

Denk- und Erkenntniswelten

Und so dringt der Leser/Betrachter, unterstützt durch Hintergrundinformationen und Kommentare Blatt für Blatt in die Denk- Erkenntnis- und Wissensvermittlungswelt Alexander von Humboldts ein. Hilfreich dabei sicherlich auch die im Buch vorgenommene thematische (und schematische) Gliederung in „Menschen, (Bau-)Werke, Tiere, Pflanzen, Erde, Karten, Planeten und Figuren, Versuche, Fragen“, die nicht unbedingt dem Ordnungssystem des Humboldtschen Nachlasses entspricht. Es ist eine spannende Expedition in die humboldtsche Denkwelt. Denn der Leser/Betrachter merkt schnell, wie sehr sich Denken und Erkenntnisgewinn des Naturforschers von der heutigen, eher statistisch geprägten Wissenschaft unterscheidet, wie Abstraktion, Visualisierung, Beschreibung und Experiment untrennbar miteinander verwoben sind. Der Blick über den Tellerrand, das Herstellen von Zusammenhängen, das Verstehen von Prozessen und am Ende der Versuch, diese komplexen Erkenntnisse zu visualisieren, machen das zeichnerische Werk des Naturwissenschaftlers aus. Eines der spektakulärsten und anschaulichsten Ergebnisse ist die legendäre Infographik „Géographie des Plantes èquinoxiales. Tableau physique des Andes et Pays voisins“, die im Rahmen eines Essays zur Pflanzengeographie 1807 publiziert wurde. Im „zeichnerischen Werk“ kann der Leser/Betrachter auch die Entstehungsgeschichte und Grundlagen dieser „Ikone der Wissenschaftsgeschichte“ anhand von Humboldts Manuskripten und Notizen nachvollziehen.

Dominik Erdmann, Oliver Lubrich: Alexander von Humboldt. Das zeichnerische Werk. Wbg Edition 2019. Gebunden, 431 Seiten.

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