Der chinesische Paravent

Seit ein paar Jahren gehört die Aufarbeitung der Kolonialzeit zu den zentralen Aufgaben der ethnologischen Museen, verbunden auch mit Restitutionsforderungen aus den Herkunftsländern geraubter Artefakte oder menschlicher Relikte. Nicht nur im Rahmen der Provenienzforschung werden dabei die Mythen über die positiven Seiten des Kolonialismus und seiner „Helden“ als eben solche entlarvt. Aber nicht nur in den einschlägigen Museen, sondern auch in so manch privatem Umfeld schlummert die koloniale Vergangenheit in Form von exotischen Erbstücken beispielsweise der Urgroßeltern. Dessen Aufarbeitung ist Privatsache und oft mit erheblichen emotionalen Hemmnissen behaftet, insbesondere dann, wenn sich die vermeintlich heldenhaften Vorfahren bei genauerer Betrachtung als Rassisten, Räuber und skrupellose Ausbeuter entpuppen.

Der Paravent eine schöne Kindheitserinnerung

Auch die Autorin des Buches, Nicola Kuhn hat geerbt, eben jenen chinesischen Paravent, der ihre eigene Familiengeschichte und die des deutschen Kolonialismus in neuem und ernüchterndem Blick erscheinen lässt. Und bereits am Anfang des ersten Kapitels, in dem sich Nicola Kuhn mit ihrer Erbschaft auseinandersetzt, wird deutlich, dass das unselige Erbe des Kolonialismus (und natürlich auch der Folgezeit) durch unsere jeweilige Familiengeschichte auch heute noch Teil von uns ist. Zugegeben nicht jeder von uns kann auf eine so eindrucksvolle Familiengeschichte zurückblicken, wie die Autorin. Ihr Urgroßvater war nämlich der überaus erfolgreiche Kaufmann, geachtete Kommerzienrat und preußischer Generalkonsul, Carl Bödiker. Der hatte laut der in der Familie kursierenden Geschichte den Paravent mit dem eindrucksvollen Drachenmotiv vom chinesischen Kaiser geschenkt bekommen. Ganz offensichtlich eine der Legenden, die die unrühmlichen Aspekte seiner Rolle in der deutschen Kolonialgeschichte verschleiern sollte.

Der Paravent eine moralische Belastung

Als Kunstkritikerin und studierte Geschichtswissenschaftlerin beschäftigt sich Nicola Kuhn schon seit langem mit dem Thema Raubkunst. Mit dem Erbstück hatte die Thematik jedoch auch eine ganz persönliche Dimension erhalten und sie für das Thema der Relikte kolonialer Vergangenheit in Privathaushalten sensibilisiert. Die Autorin hat die koloniale Familiengeschichte schonungslos aufgearbeitet, auch Dank der Unterstützung ihrer Verwandtschaft. Doch nicht jeder kann und will sich des Vermächtnisses seiner Vorfahren in dieser konsequenten Art annehmen und so spiegeln die anderen Familien, deren Geschichte Nicolas Kuhn anhand von weiteren Artefakten vorstellt, eben auch die Schwierigkeiten im Umgang mit der immerhin nicht nur emotionsbeladenen, sondern auch gesellschaftlich relevanten Familiengeschichte wider. So mancher lieb gewonnene Verwandte entpuppt sich im Nachhinein als veritabler Kriegsverbrecher, Kriegsgewinnler oder wenigstens Profiteur der kolonialen Grausamkeiten. Familienlegenden oder auch gern gepflegte koloniale Mythen werden als Deckmäntel entlarvt und die Artefakte, die in der Kindheit so romantische Vorstellungen von fernen Welten geweckt haben, stellen nun angesichts ihrer Hintergründe eine moralische Belastung dar.

Gewalt, Rassismus, Menschenverachtung

Die exotischen Souvenirs, wie das Silbergeschirr aus Kiautschou, die Trommel aus Papua Neuguinea, der Kriegerschild, der Hyänenschädel, der „Buschmannrevolver“ oder der Nupe-Hocker erzählen Geschichten von Gewalt, Rassismus und Menschenverachtung. Und immer wieder tauchen Bekannte Namen und historische Ereignisse auf, in deren Dunstfeld sich die jeweiligen familiären Protagonisten bewegen. Genannt sei hier nur Lothar von Trotha, der sich beim chinesischen Boxeraufstand und dem Völkermord an den Nama und Herero „hervorgetan“ hatte. Oder die Patriarchen des Woermann-Imperiums, die nicht nur vom Kolonialismus profitiert, sondern diesen auch politisch aktiv vorangetrieben hatten. Und es waren nicht nur die Soldaten und Kaufleute, deren gesellschaftliche Stellung und Reichtümer aus der skrupellosen Ausbeutung der Rohstoffe und Menschen Afrikas und Asiens resultierten. Die Federzeichnung „Ausfahrendes Kanu I“ von Max Pechstein oder die „Lettow-Mappe“ von Walter von Ruckteschell mit den ausdrucksvollen „Eingeborenengesichtern“ zeigen, wie sehr auch Künstler mit ihren Werken zur Mythenbildung eines „guten Kolonialismus“ und der romantischen Verklärung des kolonialen Lebens beigetragen haben.

Aufarbeitung erst am Anfang

Allein wegen seiner auch autobiografischen Aspekte ist „der Chinesische Paravent“ schon lesenswert. Aber die Spurensuche nach der Herkunft eines auf dem ersten Blick harmlosen Souvenirs eröffnet zudem Einsichten, die nicht nur hinsichtlich der Kolonialzeit selbst nachdenklich werden lassen, sondern auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit unaufgearbeiteter Mythen und rassistischer Vorurteile, zu denen aus Scham, Skrupellosigkeit, Des- oder Eigeninteresse noch heute so manche Nachfahren beitragen. Doch das Buch regt auch zur Selbstreflexion an. Für viele insbesondere nicht privilegierte Menschen erschien der Kolonialismus eine echte Chance, aus der Perspektivlosigkeit herauszukommen und in den Kolonien als Soldaten, Beamte oder Siedler Karriere zu machen, zu Wohlstand zu gelangen. So zeigt die Spurensuche auch, dass es nicht nur die „großen Namen“ waren, die den Kolonialismus vorangetrieben und getragen haben und die Frage drängt sich auf: Wie hätten wir wohl gehandelt oder wie würden wir uns heute entscheiden?

Nicola Kuhn: Der chinesische Paravent. Wie der Kolonialismus in deutsche Wohnzimmer kam. dtv 2024. Hardcover mit Schutzumschlag, 364 Seiten.

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