Spaniens letztes koloniale Abenteuer
„Es gibt keine Gefangenen“ kabelte im Januar 1934 der spanische Journalist Manuel Chaves Nogales aus Tanger an seine Redaktion der Madrider Tageszeitung AHORA. Damit entlarvte er das von reaktionären Kräften in Spanien geschürte Gerücht über 300 bei den ehemaligen maurischen Aufständischen seit Jahren gefangen gehaltenen spanischen Soldaten als reine Propaganda. Bei der Lektüre des Buches erfährt nicht nur der nichtspanische Leser vieles über den in Vergessenheit geratenen Journalisten und die spanische (Kolonial-) Geschichte zwischen den Weltkriegen.
Auf der Suche nach Phantomgefangenen
Die im Buch publizierten Reportagen Nogales beschreiben die Ereignisse in Marokko, drei Jahre nach Ausrufung der spanischen Republik und drei Jahre vor dem Aufstand der Faschisten unter der Führung Francos. 1921 hatten die Spanier in der Schlacht bei Annual im nördlichen Marokko eine vernichtende Niederlage gegen die Rifkabylen unter Mohammed Abd al-Karim erlitten und sich in die Küstenregion zurückgezogen. Die „Vergeltung“ der Kolonialmächte Frankreich und Spanien, die Marokko in Form von Protektoratsgebieten unter sich aufgeteilt hatten, war verheerend. Unter Einsatz von über 10.000 Senfgasbehältern wurde 1926 der Aufstand niedergeschlagen, Abad al-Karim ging ins Exil. U.a. in der „spanischen“ Provinz Ifni entstand ein Machtvakuum, das sich die Republik Spanien 1934 entschloss durch die militärische Besetzung auszufüllen. Dabei spielte die Legende der 300 spanischen Gefangenen eine wichtige Legitimationsrolle, deren Charakter Nogales in seiner Reportage entlarvte.
Wiederentdeckung eines Nachrichtenpioniers
Trotz recht ausführlicher Einführung muss der/die LeserIn gelegentlich schon die Hintergründe des einen oder anderen Ereignisses oder Infos zu Personen nachschlagen, die den Spaniern naturgemäß vertrauter sind als den doch eher angloamerikanisch orientierten deutschen LeserInnen. Insofern entwickelt sich der Zugang zu den Reportagen vor allem durch den literarischen und durchaus ein wenig ausschweifenden Stil des Journalisten, dessen umfangreiches Werk vor etwa 20 Jahren wiederentdeckt wurde und nun vom Kupido-Verlag in deutscher Sprache systematisch aufgearbeitet und publiziert werden soll. Ifni, Spaniens letztes koloniale Abenteuer ist der zweite Band der geplanten 10-teiligen Reihe „Reportagen & Journale“, der die in der Zeitung AHORA publizierten Reportagen von Nogales zwischen Januar und April 1934 umfasst. Band 1 „Flugreise nach Europa“ soll im September 2022 erscheinen.
Ein literarisches Vermächtnis
Die Reportagen lesen sich wie Abenteuerromane, täuschen aber nicht über die politisch brisanten Informationen und Positionen des Autors hinweg. Allein die Anreise mit dem Flugzeug erweist sich als halsbrecherisch und die vergeblichen Landungsversuche der spanischen Armee an den unzugänglichen Küsten des wirtschaftlich uninteressanten Miniprotektorats lassen ahnen, in welche Situation sich der „embedded Journalist“ für seine aktuelle Berichterstattung begeben hatte. Interessant ist ebenfalls, wie Nogales den Spagat zwischen der notwendigen Nähe zu den Protagonisten und der erforderlichen journalistischen Distanz außerordentlich glaubwürdig und mit einer gewissen Portion Ironie bewältigt. Allein der Reportagestil macht neugierig auf die Bücher der geplanten sechsbändigen Reihe mit dem erzählerischen Werk des Manuel Chavez Nogales.
Frank Henseleit (Hrsg.): Ifni. Spaniens letztes koloniale Abenteuer. Kupido Literaturverlag 2021. Hardcover 157 Seiten