Auf den Spuren des Wals

Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert

Der etwas kryptische Untertitel des Buches von Felix Lüttge, Historiker und Kulturwissenschaftler, deutet bereits darauf hin, dass der Leser hier wohl etwas Besonderes zu erwarten darf. Und tatsächlich präsentiert dieses Buch mehr als nur Walfängerromantik, wie wir sie von Melvilles Moby Dick kennen – sehr viel mehr sogar. Und das nicht nur, weil es sich bei Auf den Spuren des Wals um ein Sachbuch handelt, sondern weil Felix Lüttge eine Medien- und Wissensgeschichte des Wals im 19. Jahrhundert schreibt, deren komplexe Prozesse selbst dem maritim vorgebildeten Leser nicht unbedingt geläufig sein dürften.

Ozeanographie: Die Entstehung einer neuen Wissenschaft

Mit der Publikation „Physikalische Geographie des Meeres“ 1855, so führt Lüttge aus, formulierte der amerikanische Seeoffizier und Direktor des Nautischen Observatoriums in Washington, Matthew Fontaine Maury, 1855 eine neue Wissenschaft: die physikalische Ozeanographie. Maury konnte sich dabei auf die Autorität des „Vaters der Biogeographie“ berufen, denn: Der „Baron von Humboldt“ sei der Meinung, „dass die durch dieses System der Forschung schon jetzt gewonnenen Resultate ein neues Fach der Wissenschaft ins Leben zu rufen im Stande sind, welches er die Physikalische Geographie des Meeres genannt hat.“

Dieses System der Forschung hatte allerdings recht wenig mit den abenteuerlichen Teilen des Naturforscherlebens eines Alexander von Humboldt zu tun, sondern bestand vor allem in akribischer Schreibtischarbeit. Denn zu seinen Erkenntnissen über die physikalische Beschaffenheit der Meere hatte vor allem die Auswertung der Logbücher von Walfängern geführt. Die hatten den Seeoffizier, der sich nach einem Unfall vom aktiven Marinedienst verabschieden musste, unter anderem auf die Existenz des Golfstromes hingewiesen und Indizienbeweise für die Existenz einer Nordwestpassage geliefert.

Intelligente Walfänger: Entstehung einer historiographischen Figur

Für ihre Jagd auf die gewinnbringenden lebenden Rohstofflieferanten sammelten die Walfänger auf ihren langen Reisen über die Weltmeere jede Menge Informationen. Dabei ging es weniger um wissenschaftliche oder biologische Erkenntnisse, sondern um das Ausmachen der besten Jagdgründe. Wo also waren welche Walarten zu welchen Zeiten anzutreffen und wie ließ sich die begehrte Beute am besten töten. Dabei hatte die Walfänger so ihre ganz eigenen Methoden, um an für sie relevante Daten zu gelangen. So führte die Kennzeichnung der Harpunen zur Möglichkeit, die Reisen individueller Tiere nachzuverfolgen. Aufgrund bei erfolgloser Jagd steckengebliebener Harpunen ließ sich nachweisen, dass es eine Nordwestpassage geben müsse, da Wale, die nie den Äquator überquerten, dennoch in Nordatlantik und Nordpazifik anzutreffen waren.

Auf der Spur der ökonomisch wertvollen Meeressäuger drangen die Walfänger in immer neue, kartografisch noch weitgehend unerschlossene Seegebiete vor. Inseln wurden von ihnen entdeckt (oder wiederentdeckt) und spätestens in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der Blüte des amerikanischen Walfangs hatte sich das Bild des „intelligenten Walfängers“ herausgebildet, eines ganz im amerikanischen Pioniergeist verhafteten Eroberers und Bezwingers der maritimen Wildnis. Insofern gehört auch der immer wieder zitierte Roman Moby Dick zur Entstehung beziehungsweise Bestätigung des Narrativs vom „klugen Walfänger“.

Der Wal als Gegenstand der Naturforschung

Auf der Basis der Informationen, die die Walfänger den amerikanischen Behörden lieferten, bzw. liefern mussten, formte sich schließlich ein in den Schreibstuben entstandenes ozeanographisches Bild der Meere. Allein dieser Prozess zieht den Leser in seinen Bann, beschreibt er doch eine wissenschaftliche Methodik des Datensammelns und -verarbeitens, die sich kaum von der heutigen Zeit unterscheidet. Der Wal als biologische Wesen blieb hingegen weitgehend unbekannt.

Die Gründe sind so vielfältig wie faszinierend.

Wer heute im Fernsehen die Dokumentationen über die mächtigen Meeressäuger betrachtet, kann sich kaum vorstellen, dass die riesigen Tiere im 19. Jahrhundert in ihrer Gesamtheit und natürlicher Umgebung schlichtweg nicht zu erfassen waren. Selbst die Walfänger bekamen bestenfalls die über Wasser sichtbaren Teile der Giganten zu Gesicht oder aber die zu zerlegenden Kadaver. Auch gestrandete Wale lieferten, außerhalb ihres eigentlichen Elementes und halb verborgen im Sand, keinen zuverlässigen Gesamteindruck des biologischen Wesens, das sich zwar zerlegen und verwerten, aber eben kaum erforschen ließ. Vor diesem Hintergrund übrigens sind, so der Autor, auch die Aquarien als eine „der wichtigsten Voraussetzungen für die experimentelle Erforschung lebendiger Tiere im Labor“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.

Tolles Buch

Felix Lüttge liefert dem Leser mit seinem Buch unerwartete Perspektiven und Hintergründe zur Rolle des Wals in den Naturwissenschaften und bei der Ozeanographie. Ein durch und durch spannendes Buch, bei dem es allerdings von Nutzen ist, der englischen und französischen Sprache mächtig zu sein. Nicht alle der zahlreichen Zitate zeitgenössischer whaler, Forscher oder Schriftsteller werden in den Fußnoten übersetzt. Außerdem stört es natürlich den Lesefluss, in den Fußnoten nach den jeweiligen Übersetzungen zu suchen. Ansonsten ist es ein sehr gelungenes Buch über ein spannendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte.

Felix Lüttge: Auf den Spuren des Wals. Geographien des Lebens im 19. Jahrhundert. Wallstein 2020. Gebunden mit Schutzumschlag, 278 Seiten

Ein Kommentar

Eingeordnet unter 19. Jahrhundert, 5 Neuzeit, Rezension

Eine Antwort zu “Auf den Spuren des Wals

  1. Das klingt nach einem tollen Buch. Danke für die Rezension!

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