„Leben und Überleben im Westpazifik“ ist der treffende Untertitel des Buches über die faszinierende Welt Mikronesiens, über traditionelle Strukturen und die Bewältigung der grenzwertigen Umweltbedingungen dieser Region.
Auch wenn sich die traditionellen gesellschaftlichen Strukturen Mikronesiens längst in Auflösung befinden, ist es der Herausgeberin des Buches „Südsee-Oasen“ und Fachreferentin für Ozeanien am Linden-Museum Stuttgart, Ingrid Heermann, gelungen, den komplexen Zusammenhang zwischen den vielfältig ritualisierten Gesellschaftskonventionen der Vergangenheit und den unterschiedlichen Lebensbedingungen im Naturraum der westpazifischen Inselwelt zu vermitteln. Dabei konnte Heermann, die auch für die Ausstellung „Südsee-Oasen- Leben und Überleben im Westpazifik“ des Linden-Museums im Jahre 2010 verantwortlich war, auf ausdrucksstarke Exponate, Forschungsberichte und historische Fotos aus den Sammlungen des Stuttgarter Linden-Museums zurückgreifen.
Die vergessenen Archipele
Lange Zeit stand die wirtschaftlich relativ uninteressante und kulturell so heterogene Inselwelt Mikronesiens bei der Erforschung des Ozeanischen Raumes nicht gerade im Fokus des Interesses der europäischen Entdecker. Erst relativ spät, Ende des 19. Jahrhunderts wurde das sich von Ost nach West über rund 4000 Kilometer erstreckende Seegebiet mit seinen mehr als 2000 Inseln systematisch erforscht. Gerade einmal 2700 Quadratkilometer umfasst die Landfläche der heutigen fünf selbständigen Staaten Mikronesiens, die von Palau im Westen bis Kiribati im Osten an der Grenze zu Polynesien reichen. Mikronesien war nicht nur ein Schauplatz des amerikanisch- japanischen Pazifikkrieges, sondern auch Testgebiet für amerikanische Atombomben. Kolonialisierung, Missionierung und amerikanische Verwaltung hatten in den letzten 200 Jahren, wie die Autoren von „Südsee-Oasen“ aufzeigen, hohe Anforderungen an die Wandlungsfähigkeit der Inselgesellschaften gestellt. Dabei zeigten die teils recht kleinteiligen mikronesischen Gesellschaften einen, wie Heermann betont, recht kreativen Umgang mit den neuen Anforderungen. Somit wiesen die traditionellen Strukturen von Familie und Sozialgefüge trotz massiver Auflösungstendenzen spätestens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein erstaunliches Beharrungsvermögen auf. Und angesichts zunehmender wirtschaftlicher und klimatischer Probleme, denen die Inselbewohner ausgeliefert sind, findet in jüngster Zeit eine „Rückbesinnung auf die eigenen Ressourcen“ und die eigene Identität statt.
Mikronesien, bedrohte Lebenswelt
Das Verständnis traditioneller mikronesischer Kulturen, so wird im Buch „Südsee-Oasen“ deutlich, hängt von der Kenntnis der Dynamik des natürlichen Lebensraumes, der miteinander verwobenen hochsensiblen Ökosysteme der hohen und der flachen Inseln ab. Die materielle Kultur, die sozialen und ökonomischen Strukturen, die rituellen Handlungen, die Formen des Geister- und Götterglaubens, all dies sind Bestandteile kollektiver Problemlösungs- und Existenzsicherungsstrategien in einer Welt, in der, wie beispielsweise auf den teilweise künstlich erhöhten Atollinseln, die Lebensgrundlage durch Taifune oder Tsunamis von einem Augenblick zum anderen zerstört werden kann.
Wie bereits die Kapitel über Atolle und hohe Inseln, den Klimawandel, die Atomtests auf dem Bikiniatoll und nicht zuletzt die Geologie, Entdecklung und Besiedelung der mikronesischen Inselwelt nahe legen, ist das Buch „Südsee-Oasen“ keine lediglich durch schöne Exponate illustrierte Beschreibung exotischer Rituale, Sitten und Handwerkskünste. Die Herausgeber haben es sich mit dem Buch nicht leicht gemacht und versucht, dem Leser die Komplexität der heterogenen mikronesischen Gesellschaften in ihren Zusammenhängen und ihrer räumlichen- zeitlichen und ökologischen Dynamik nahezubringen. Und genau das ist gelungen. Ohne etwas von ihrer Exotik einzubüßen, werden, je weiter man bei der Lektüre fortschreitet, Handwerkstechniken, Dekorationen, Rituale, Tabus, und Fähigkeiten durchaus plausibel. Im dargestellten Kontext ergeben sie einen praktischen Sinn.
Rituale als Überlebensstrategie
Selbst so merkwürdige Artefakte, wie die riesigen steinernen Geldstücke, die zum Teil nur mit mehreren Männern transportierbar eine bestimmte Form des interinsularen Zahlungsverkehrs darstellten, folgen einer durchaus nachvollziehbaren Logik, hat man das Ausgleichsprinzip der internen und externen Beziehungen in dieser schier unendlichen Inselwelt erst einmal begriffen.
Rituale der Nahrungsherstellung und der Vorratswirtschaft, der Bootsbau, die Navigation, Formen der Konfliktbewältigung, ja die scheinbar sinnlosen, immer riskanten Seereisen über Hunderte oder Tausende von Kilometern einschließlich der dazugehörigen Kommunikation mit den Göttern Geistern und Ahnen erschließen sich dem Leser bald als durchaus rationale gesellschaftliche Überlebensstrategien. Viele dieser Sozialtechniken sind nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Schriftlosigkeit entstanden, die durch mündliche Überlieferungen, Rituale, aber auch eine künstlerische Symbolsprache kompensiert wird, die sich in den „Dekorationen“ nahezu aller Gebrauchsgegenstände einschließlich der Häuser und Boote und nicht zuletzt in den Körpertätowierungen ausdrückt.
Expeditionsfeeling bei Südsee-Oasen
Für Viele Menschen ist das Thema des Buches „Südsee-Oasen“ sicherlich relativ neu. Denn es handelt sich hier eben nicht um die vor dem Hintergrund der Entdeckungsreisen von James Cook, Georg Forster oder Matthew Flinders inzwischen vielfach beschriebene polynesische Inselwelt, denen schon in der Vergangenheit einige große Ausstellungen gewidmet waren und deren Artefakte in den Völkerkundemuseen der Welt meist im Vordergrund stehen.
Nach der Lektüre des Buches „Südsee-Oasen, Leben und Überleben im Westpazifik“ beginnt der Leser zu ahnen, dass der kulturelle Reichtum der mikronesischen Gesellschaften in keiner Weise hinter dem des polynesischen Raumes zurücksteht und dass die Auseinandersetzung mit diesen Kulturen einen unschätzbaren Beitrag für unseren Umgang mit Treibhauseffekt und Klimawandel liefern kann. „Südsee-Oasen“ ist ein Buch, dessen Lektüre durchaus eine gewisse Konzentrationsfähigkeit erfordert und das der eilige Leser nicht verstehen wird. Dem interessierten Leser, der sich auf das komplexe Thema einlässt, bietet das Buch beinahe Expeditionsfeeling. Dazu tragen auch die teils großformatigen historischen Fotos und selbstverständlich die Abbildungen der faszinierenden Ausstellungsexponate bei.
Ingrid Heermann: Südsee-Oasen- Leben und Überleben im Westpazifik. Linden-Museum Stuttgart 2009. Hardcover, 240 Seiten. (nur über den Museumsshop erhältlich)